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Kinderschutz in der Praxis

Johanna Zimmerl, Leiterin des möwe Kinderschutzzentrums Wien sprach mit Sophia Felbermair vom ORF über Präventionsarbeit im Kinderschutz
(Artikel erschienen am 2. Februar 2023 auf orf.at)


Der Schutz von Kindern vor Gewalt und sexuellem Missbrauch ist durch den Fall Teichtmeister und durch das jüngst von der Regierung präsentierte Maßnahmenpaket der Regierung einmal mehr in den Fokus gerückt. Neben der Debatte über höhere Strafen ist es vor allem aber die Präventionsarbeit, die laut Expertinnen und Experten gestärkt werden muss. Johanna Zimmerl, Leiterin des Kinderschutzzentrums die möwe in Wien, erklärt im ORF.at-Gespräch, wie das in der Praxis aussieht und wie Erwachsene Kinder so gut wie möglich schützen können.

Häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe im privaten Umfeld oder in Betreuungseinrichtungen, Herstellung, Verbreitung und Besitz von Missbrauch in Form von Fotos und Videos – Kindesmissbrauch passiert in unterschiedlichen Formen und Delikten. Umso schwieriger sind das tatsächliche Ausmaß und die Zahl der Betroffenen zu ermitteln, da sich Statistiken nur auf bekanntgewordene oder angezeigte Fälle stützen können.

Eine UNICEF-Dunkelfeldstudie versuchte, durch Schätzungen und Hochrechnungen zumindest eine grobe Größenordnung zu ermitteln – mit dem erschreckenden Fazit, dass weltweit jedes vierte Mädchen und jeder achte Bub mindestens einmal während der Kindheit bzw. Jugend Opfer eines sexuellen Übergriffs wird. Aus Scham oder Angst schweigen viele Opfer auch im Erwachsenenalter noch über das Erlebte – oft mit der Konsequenz, dass Missbrauchssituationen sich wiederholen oder über Jahre hinweg andauern. Selbst wenn es Betroffenen gelingt, sich an Vertrauenspersonen zu wenden, werden viele Fälle nicht angezeigt, viele Verfahren enden mit Freisprüchen aus Mangel an Beweisen.

Kinderschutzkonzepte geplant, Vorgaben noch unklar

Sämtliche Expertinnen und Experten sehen auch in Österreich dringenden Handlungsbedarf – primär im Bereich Prävention und niederschwellige Hilfe. Zu den Forderungen unterschiedlichster Kinderschutzeinrichtungen zählte jahrelang jene nach verpflichtenden Kinderschutzkonzepten, laut Ansage der Regierung sollen diese jetzt verpflichtend für Schulen und freiwillig – als Voraussetzung für ein neues Gütesiegel – für Vereine und andere Institutionen kommen. Wie genau die Vorgaben dafür sein werden, ist noch unklar.
Für die Leiterin des Kinderschutzzentrums die möwe ist wichtig, dass die Konzepte passgenau für die jeweilige Einrichtung erstellt werden müssten – „es gibt nicht ein Konzeptrezept, das von außen übergestülpt werden kann“, so die Psychotherapeutin und Psychologin. „Am besten wirken Kinderschutzkonzepte dann, wenn sie schon partizipativ von den Mitarbeitenden in den Organisationen mit erarbeitet werden“, so Zimmerl.

Um Missbrauch und Gewalt gegen Kinder in Institutionen im Idealfall zu verhindern oder zumindest so früh wie möglich zu erkennen, gehöre zu einem Kinderschutzkonzept eine sehr genaue, auf die Betreuungssituation abgestimmte Risikoanalyse. „Das heißt, dass man sich anschaut, wo sind die heiklen Punkte im jeweiligen Rahmen, das wird bei einem Sport- oder Turnverein vielleicht anders sein als in einer elementarpädagogischen Einrichtung, je nach Altersgruppe, je nach Aktivitäten, die gesetzt werden.“

„Das Wichtigste ist hinzuschauen“

Für Beschäftigte, die mit Kindern arbeiten, sollen Kinderschutzkonzepte Handlungssicherheit und Leitlinien bieten, für den Fall, dass ein Kind von Gewalt und Missbrauch betroffen sein könnte – egal ob in der Institution oder im privaten Rahmen. „Das Wichtigste ist hinzuschauen“, betont Zimmerl. Erwachsene, die mit Kindern arbeiten, müssten sensibilisiert werden, dass Gewalt an Kindern vorkomme, dass man sich damit auseinandersetzen müsse, auch wie man das selber aushalten könne. „Als pädagogische Fachkraft ist es eine wichtige Voraussetzung und Notwendigkeit, es auf dem Radar zu haben: Es wird mir begegnen.“
Im Kinderschutzzentrum die möwe kommt gut die Hälfte der Kontaktaufnahmen vonseiten direkt Betroffener – von Jugendlichen oder von Eltern. Die andere Hälfte sind „Helferinnen“, wie Zimmerl es nennt, die sich aufgrund von Beobachtungen oder konkreten Verdachtsmomenten an die Organisation wenden: Menschen, die in der Elementarpädagogik arbeiten, Lehrerinnen und Lehrer, Psychologinnen und Psychologen, aber auch, wenn es bereits Anzeigen gibt, die Polizei.

Gleichaltrige und Lehrende oft erste Vertrauenspersonen

Kinder und Jugendliche würden nicht selten Gleichaltrigen zuerst von Übergriffen erzählen, so Zimmerl. „Das finde ich sehr berührend, wenn sie erzählen, dass sie aus dem Freundeskreis dazu gebracht werden, sich einer Lehrperson anzuvertrauen, oft auch gemeinsam.“ Pädagoginnen und Pädagogen seien dann ganz oft die wesentlichen Vertrauenspersonen für Kinder und häufig auch die ersten Erwachsenen, die von Gewalt und Missbrauch erfahren.

In der Präventionsarbeit setzt man dabei an zu vermitteln, wie die Dynamik und Symptomatik bei verschiedenen Gewaltformen sein können. „Sexueller Missbrauch hat schon eine sehr eigene Dynamik eines strategischen Verbrechens“, so Zimmerl. Trivial ist das nicht: „Die menschliche Psyche ist nicht so, dass man sagen kann, wenn a), dann b) – man kann auch nicht von einer speziellen Verhaltensweise mit Sicherheit auf eine spezielle Ursache schließen.“ Es sei daher wichtig, grundsätzlich auf die Kombination verschiedener Verhaltensmuster zu achten – und für Erwachsene zu wissen, welches Netzwerk und welche Anlaufstellen in der jeweiligen Rolle zur Verfügung stehe. „Kinderschutz gelingt nie alleine, sondern immer nur gemeinsam. Wenn ich weiß, welches Netz ich um mich habe, heißt das auch, ich kann ein Netz für das Kind bauen.“

„Jedes Bauchgefühl ist ernst zu nehmen“

Angst vor Vorverurteilung nach ersten Verdachtsmomenten dürfe keine Hemmschwelle für die Suche nach Hilfe sein. Einrichtungen wie die möwe bieten anonyme Hilfe, sowohl per Telefon als auch in persönlichen Terminen. "Damit man sich noch einen Blick von außen hinzuholen kann, um eine Einschätzung zu treffen, in welchem Bereich man sich überhaupt bewegt. „Jedes Bauchgefühl ist grundsätzlich ernst zu nehmen“, rät Zimmerl.

Solange es Verdachtsmomente im vagen Bereich seien, müsse man gut abwägen, wer etwa mit dem Kind sprechen könnte, welche nächsten Schritte sinnvoll seien. Ist die Verdachtslage konkreter, etwa durch Aussagen von Kindern oder Verletzungsspuren, helfen Kinderschutzorganisationen mit Interventionsplanung und Anzeigenberatung, wenn akute Bedrohungssituationen vorliegen, auch unter Einbeziehung der Polizei.
Dass Kinder falsche Anschuldigungen tätigen, komme extrem selten vor, so Zimmerl. „Eine Geschichte mit Anfang, Ablauf und Ende zu konstruieren, ohne dass ein Erlebnishintergrund besteht – und das auch aufrechtzuerhalten, das ist eine relativ hohe kognitive Anforderung, zu der Kinder im Normalfall gar nicht fähig sind“, beschreibt sie. Wesentlich häufiger sei es, dass Kinder Erlebtes geheim halten – etwa eben auch Übergriffe. Vor allem bei den Jüngsten gebe es zudem das Problem, dass sie wenig spontan erzählen würden – und jede Nachfrage potenziell beeinflussend wirken kann.

Missbrauchsbilder: „Prolongierter Kontrollverlust“

Kinder, deren Gewalt- und Missbrauchserfahrungen durch die Täter auch in Bildern und Videos festgehalten wurden, seien zweifellos einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt. „Wenn ich weiß, dass von den Handlungen, die an mir durchgeführt wurden, über die ich keine Kontrolle hatte, jetzt auch noch Material im Umlauf ist, das ich auch nicht mehr kontrollieren kann: Dieses Hilflosigkeitserleben, das ist ein Gefühl, das wir Menschen gar nicht aushalten“, sagt Zimmerl. Es sei ein „prolongierter Kontrollverlust“.
Gleichzeitig gebe es Fälle, in denen gerade die Bilder und Videos auch einen Entlastungseffekt hätten, auch wenn es absurd klinge: „In den meisten Konstellationen steht es Aussage gegen Aussage. Wenn es Video oder Bildmaterial gibt, ist zumindest bewiesen, dass zumindest das, was zu sehen ist, stattgefunden hat.“ Das führe dazu, dass Täter und Täterinnen eher verurteilt werden könnten oder zumindest teilweise geständig seien. Dass Missbrauch auch noch dokumentiert würde, würde man jeder und jedem Einzelnen ersparen wollen, so Zimmerl. Dennoch: Nicht zuletzt durch die Bilder wird deutlich, dass Kinder – auch wenn sie über die Missbrauchserfahrungen sprechen – eher weniger erzählen, was passiert ist, als dass sie etwas dazuerfinden würden.