Wirksamer Kinderschutz braucht umfassende Sexualpädagogik
Als Kinderschutzorganisation sieht "die möwe" eine umfassende Sexualpädagogik als unverzichtbaren Bestandteil des Kinderschutzes. Basierend auf den WHO-Standards zur Sexualpädagogik und den Grundsätzen des österreichischen Bildungsministeriums fordern wir eine alters- und entwicklungsgerechte sexuelle Bildung, die von Geburt an integraler Bestandteil der Erziehung und des Bildungsauftrages sein muss. Sexualpädagogik darf nicht auf punktuelle Aufklärungsgespräche oder den Fokus auf Geschlechtsverkehr reduziert werden, sondern muss ganzheitlich in einen positiven Beziehungskontext und im erzieherischen Alltag eingebettet sein.
Sexualpädagogik beginnt früh – schon am Wickeltisch
Bereits ab der Schwangerschaft sollte werdenden Eltern sexuelle Bildung als wichtiger Teil der Erziehung bewusst gemacht werden. Sexualpädagogik beginnt nicht erst in der Pubertät, sondern bei der Benennung aller Körperteile, auch der Genitalien, am Wickeltisch. Kinder sollen von Anfang an lernen, ihren Körper richtig zu benennen, wertzuschätzen und sich selbst als eigenständige Persönlichkeiten mit Rechten und Grenzen wahrzunehmen.
Kinder entwickeln ihr Interesse am Körper und an Sexualität individuell und phasenweise unterschiedlich. Sexualpädagogik muss demnach flexibel auf den Wissensdurst und den Entwicklungsstand der Kinder eingehen. Dabei sind Offenheit, sachliche Richtigkeit und eine unaufgeregte Haltung essenziell. Kinder dürfen jederzeit Fragen stellen und sollen altersgerechte, verständliche Antworten erhalten. So werden Tabus abgebaut und Kinder werden bei ihrem Wissensstand abgeholt und nicht mit falschen, beziehungsweise unvollständigen Informationen aus ungeprüften Quellen oder gar mit pornografischem Material allein gelassen.
Beziehungsgestaltung im Zentrum der Sexualpädagogik
Sexualpädagogik muss immer über die reine Wissensvermittlung hinausgehen und die Gestaltung von Beziehungen in den Mittelpunkt stellen. Es geht um weit mehr als um die sachkundige Aufklärung über Geschlechtsorgane, Sexualpraktiken, sexuelle Orientierung oder Verhütung. Kinder sollen lernen, ihre eigenen körperlichen Bedürfnisse, Lustgefühle und emotionalen wie sozialen Grenzen zu erkennen und bei sich und anderen zu respektieren. Sexualität umfasst viele Aspekte wie das Kribbeln beim Händchenhalten, Sehnsuchtsfantasien, Schmetterlinge im Bauch, körperliche Erregung oder auch Ekelgefühle – und darf nicht auf „Erwachsenensexualität“ mit dem Fokus auf Geschlechtsverkehr reduziert werden.
Eine umfassende Sexualpädagogik bereitet Kinder darauf vor, ihre Sexualität in einem altersgerechten und individuellen Tempo zu entdecken. Sie lernen, dass Einvernehmlichkeit ein Grundprinzip jeder Beziehungsgestaltung ist und dass gegenseitiges Kennenlernen immer schrittweise und im beidseitigen Einverständnis erfolgen muss.
Prävention durch Aufklärung
Kinder, die gut aufgeklärt sind, können besser auf ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen achten. Sie sind eher in der Lage, Nein zu sagen und sich gegen Grenzverletzungen zu wehren. Sexualpädagogik schützt Kinder vor Übergriffen, indem sie ihnen Kenntnisse und die Sprache vermittelt, um sich auszudrücken, sexuelles Erleben einzuordnen und gegebenenfalls Hilfe zu suchen. Gleichzeitig ermöglicht sie es Kindern, Lustgefühle positiv zu erleben und mit Neugier, aber auch mit Respekt, aktiv und selbstbestimmt Beziehungen zu gestalten.
Angesichts der zunehmenden Konfrontation von immer jüngeren Kindern mit pornografischen Inhalten, insbesondere über soziale Medien, ist eine umfassende Sexualpädagogik heute wichtiger denn je. Kinder konsumieren solche Inhalte immer häufiger bereits im Grundschulalter, oft ohne die Möglichkeit, das Gesehene einschätzen zu können. Das Fehlen frühzeitiger, altersgerechter Aufklärung führt dazu, dass sie Sexualität vor allem über bildliche Darstellungen in den sozialen Medien kennenlernen – mit Fokus auf standardisierte Körperlichkeit, Leistungsdruck und oft auch gewaltvollen Handlungen, statt über liebevolle Selbstwahrnehmung, angefangen bei der Frage nach dem eigenen Wohlbefinden und passender körperlicher Begegnung.
Gefahren einer fehlenden Sexualpädagogik
Besorgniserregend ist, dass immer mehr Heranwachsende, vor allem Mädchen im Alter von 10 bis 13 Jahren, unrealistischen Körperbildern, die auf sozialen Medien als „ideale Norm“ repräsentiert werden, entsprechen wollen und auch sexuelle Erfahrungen suchen, die eher schematischen Bildern als eigenen Bedürfnissen folgen. Oft ist dies mit der Erwartung verknüpft, cooler oder bereits erwachsener zu wirken und den sozialen Status in der Peergroup erhöhen zu können. Unter Umständen geraten sie dabei in Situationen, die ihren eigentlichen Wünschen nach körperlicher und emotionaler Nähe und achtsamer Befriedigung der eigenen sexuellen Neugier widersprechen. Sie erleben sexuelle Handlungen, die sie im Nachhinein als massiv unangenehm, falsch oder sogar als Vergewaltigung empfinden. Ohne ausreichende sexuelle Bildung sind sie vorab oder während des sexuellen Kontakts nicht in der Lage, deutlich und nachvollziehbar Grenzen zu ziehen und „Nein“ zu unerwünschten sexuellen Handlungen zu sagen. Um dem entgegenzuwirken, braucht es praxisnahe Konzepte, die Sexualität in den Kontext von Beziehungen stellen und durch Eltern sowie im pädagogischen Alltag vermittelbar sind. Kinder und Jugendliche sollen lernen, dass gegenseitige Zustimmung und ein schrittweises Kennenlernen essenzielle Bestandteile jeder gesunden sexuellen Erfahrung sind und es dazu auch gesetzliche Regelungen gibt.
Kein Platz für Ideologien
Als Kinderschutzorganisation distanzieren wir uns klar von sexistischen, unsachlichen, unempathischen oder ideologisch aufgeladenen Herangehensweisen. Zum Beispiel ist der Begriff „Frühsexualisierung“ wissenschaftlich veraltet und wird häufig instrumentalisiert, um umfassende sexuelle Bildung zu verhindern. Er suggeriert fälschlicherweise, dass Kinder durch frühe sexualpädagogische Inhalte irritiert oder traumatisiert werden könnten. Tatsächlich zeigen Studien das Gegenteil: Kinder, die früh und altersgerecht aufgeklärt werden, sind besser in der Lage, sich entsprechend ihrer eigenen Entwicklung in einer zunehmend vielfältigen und sexualisierten Welt zu orientieren.
Forderung: Verankerung von Sexualpädagogik als fortlaufender Bestandteil der Bildung
Sexualpädagogik darf nicht auf seltene, punktuelle, oft unangenehme Gespräche reduziert werden oder ausschließlich von externen Expert*innen durchgeführt werden. Sie muss sowohl in Familien als auch in Bildungseinrichtungen als fester Bestandteil der Erziehung etabliert sein. Kinder sollten kontinuierlich und bedürfnisgerecht begleitet werden, anstatt nur einmalig oder nach Anlassfällen mit sexualpädagogischen Themen konfrontiert zu werden.
Eine Gesellschaft, die Tabus in der Sexualpädagogik abbaut, gibt Kindern die Möglichkeit, ihre eigene Sexualität im Einklang mit ihren Bedürfnissen zu entdecken. Sie unterstützt sie dabei, selbstbewusst und verantwortungsvoll mit Lustgefühlen und Grenzen umzugehen. Dies ist der beste Schutz vor Übergriffen und hilft Kindern, gesunde Beziehungen zu sich selbst und anderen aufzubauen.
Fazit
Wirksamer Kinderschutz ist ohne umfassende Sexualpädagogik nicht möglich und ein sexualpädagogisches Konzept ist ein elementarer Bestandteil eines Kinderschutzkonzeptes. Kinder müssen frühzeitig lernen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu verbalisieren, Grenzen zu kommunizieren und respektvolle Beziehungen zu gestalten. Die sexualpädagogische Begleitung muss dabei stets in einem positiven Beziehungskontext erfolgen, um Kinder nicht nur vor Gefahren zu schützen, sondern ihnen auch ein gesundes Verständnis von Sexualität zu vermitteln.
Wir fordern daher die konsequente Umsetzung der WHO-Standards und eine verpflichtende Verankerung regelmäßiger Sexualpädagogik in allen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Kinder in einer zunehmend sexualisierten Welt Orientierung, Schutz und Halt finden.