Die möwe präsentiert aktuelle Studie zum Thema Gewalt an Kindern
Bereits zum vierten Mal im Abstand von ca. 4-5 Jahren führte die möwe – Kinderschutzzentren - eine repräsentative Befragung zur Einstellung und Bewusstsein zu Gewalt an Kindern in der österreichischen Bevölkerung durch. Im heurigen Jahr wurde zusätzlich die aktuelle Corona-Situation miteinbezogen und analysiert. Die Ergebnisse der Studie und das Fazit daraus wurden am 16.12.2020 im Rahmen einer online Pressekonferenz präsentiert.
Gewaltfreie Erziehung nur für die Hälfte der Befragten ideale Erziehungsform
Die Ergebnisse lassen in einigen Bereichen aufhorchen: Nach mittlerweile 30 Jahren des gesetzlich verankerten Gewaltverbots in der Erziehung antworten noch immer lediglich die Hälfte der Befragten, dass eine gewaltfreie Erziehung die ideale Erziehungsform sei. Etwas mehr als ein Fünftel kann sich auch heute noch keine Erziehung ohne zumindest leichte körperliche Bestrafungen vorstellen und etwa ebenso viele sind der Meinung, dass auch manchmal drastische Mittel eingesetzt werden müssen.
„Ein erschreckendes Ergebnis“, meint Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin und fachliche Leitung der möwe „das zeigt, dass die Aufklärungsarbeit in diesem Bereich notwendig ist wie eh und je. Wir sehen tagtäglich bei den betroffenen Kindern, die zu uns in die Kinderschutzzentren kommen, vor allem die psychischen Auswirkungen, die Gewalt auf Kinder haben kann“.
Psychische Gewalt von vielen nicht als Gewalt wahrgenommen
Gewalt wird nach wie vor primär mit körperlicher Gewaltanwendung in Verbindung gebracht. Aussagen zur körperlichen Gewalt wie „der achtjährige Sohn bekommt von seinem Vater eine Tracht Prügel, weil er großen Mist gebaut hat“ werden von 89% der Befragten als Gewalt eingestuft oder die Ohrfeige vom Nachbarn, weil das Kind ein Fenster eingeschlagen hat, wird lediglich von 82% als gewalttätig gewertet. Die Expert*innen schließen daraus, dass unter manchen Umständen Gewalt nach wie vor als „gerechtfertigt“ angesehen und damit bagatellisiert wird.
Psychische Gewalt, wie das Anschweigen von Kindern oder das Lächerlich-Machen vor Freunden wird noch deutlich weniger als gewalttätig erkannt: Das Nicht-mehr-Sprechen mit dem Kind oder Drohungen, dass man das Kind nicht mehr lieb haben wird, werden lediglich von rund 70% mit Gewalt am Kind assoziiert.
Das Miterleben von häuslicher Gewalt ist für Kinder schädlich
Während die Zeugenschaft von häuslicher Gewalt von 77% der Befragten als gewalttätig eingestuft wird, bleibt die Einschätzung der Schädlichkeit hochstrittiger Scheidungen vage: Die Situation von Kindern, die im Zuge eines Scheidungskonflikts zwischen die Fronten geraten, wird nur von knapp 60% als gewalttätig und schädlich eingestuft. Daher ist die ab 1.1.2021 geltende Neustrukturierung und Ausweitung der Prozessbegleitung (§§ 65, 66b Prozessbegleitung) auf minderjährige Zeugen von Gewalt im sozialen Nahraum und Opfer „typischer“ Hass im Netz-Delikte begrüßenswert. Dies entspricht den jahrelangen Forderungen der möwe, der besonders vulnerablen Opfergruppe von Kindern, die häusliche Gewalt miterleben müssen, auch den Zugang zu Prozessbegleitung zu ermöglichen.
Große Verunsicherung beim Thema „sexuelle Gewalt“
Bei der Einschätzung von sexueller Gewalt gibt es nach wie vor große Verunsicherung. Während konkrete sexuelle Handlungen Erwachsener mit oder im Beisein von Kindern eindeutig als Missbrauch/sexuelle Gewalt eingestuft werden, gibt es offene Fragen, wann es richtig sei, Kinder aufzuklären, ob es erlaubt ist, gemeinsam mit seinen Vorschulkindern nackt zu baden oder ob Geschlechtsverkehr zwischen unter 16-jährigen als Gewalt einzustufen sei.
Gewalt an Kindern nimmt in Österreich von Generation zu Generation ab
„Bei der Frage des eigenen Erlebens von Gewalt in der Kindheit sehen wir erfreulicher Weise, dass je jünger die Befragten sind, desto weniger mussten sie als Kinder selbst Gewalt erfahren. Das bedeutet, dass Gesetze wie das Gewaltverbot in der Erziehung Wirkung zeigen und dass unsere Gesellschaft Kinderrechte zunehmend auch verwirklicht – dennoch bleibt noch einiges zu tun, damit wirklich kein Kind in Österreich mehr Gewalt und Missbrauch erleben muss“, meint Prim.a Dr.in Jutta Falger, Leiterin der Kinder- und Jugendheilkunde am Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf und Vizepräsidentin der möwe.
Die Vorgehensweise bei Verdacht auf Gewalt wird passgenauer
Im Vergleich zu den vergangenen Jahren wird deutlich, dass Menschen, die einen Verdacht hegen, heute genauer Bescheid wissen, was zu tun ist. 51% verständigen richtiger Weise das Jugendamt – im Jahr 2016 waren das noch 39 %. 43% melden ihren Verdacht der Polizei – 2016 waren das lediglich 24%. Auch tauschen sich mehr Menschen als bisher mit Personen ihres Vertrauens über das Beobachtete aus. „Das macht uns Mut, denn so kann betroffenen Kindern schneller geholfen werden“, meint Hedwig Wölfl, „die Aufklärungs- und Informationsarbeit mit unserem Aufruf Hinzusehen zeigt offensichtlich Ergebnisse.“
Auswirkungen der Covid 19 Pandemie
Aus Sicht der Befragten haben die aktuellen Rahmenbedingungen einen deutlichen Einfluss auf die Gewalterfahrungen. Zwei Drittel gehen von einem höheren Ausmaß häuslicher Gewalt aus, knapp 60% sind der Ansicht, dass psychische und körperliche Gewalt gegen Kinder häufiger vorkommen, rund ein Drittel sehen auch eine Zunahme bei sexueller Gewalt bzw. Vernachlässigung.
Seit Beginn der Pandemie hat ein Fünftel der Befragten von Gewalt gegen Kinder gehört, weitere 5% auch beobachtet und 3% sogar selbst erlebt, jedoch weist die große Anzahl an Antwortenthaltungen bei dieser Frage darauf hin, dass deutlich mehr Gewalt in irgendeiner Art und Weise wahrgenommen oder erlebt wurde.
Körperliche Gewalt und verbale Auseinandersetzungen waren jene Formen der Gewalt, die sich während der Pandemie am häufigsten manifestierten.
„Die Situation von gewaltbetroffenen Kindern ist durch soziale Isolation besonders aussichtslos“, meint Wölfl, „denn sie brauchen erwachsene Bezugspersonen, denen sie sich anvertrauen können. Je jünger Kinder sind, desto größer ist das Risiko, dass sie Gewalt innerhalb der Familie erleben müssen. Gibt es aber außer der Familie keine Kontaktmöglichkeiten z.B. mit Pädagoginnen oder Freunden sind die Möglichkeiten für sie, sich Hilfe zu holen sehr gering“.
Das wird bei der Frage nach den Auswirkungen für Kinder von den Befragten auch so gesehen. So gehen 71% davon aus, dass fehlende soziale Kontakte und Einsamkeit Kinder belasten. Ebenso wie das Leben daheim auf engstem Raum, Home-Schooling oder die Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Auf die Frage, was es braucht, um bestmöglich für das Wohl der Kinder zu sorgen, deckt sich die Einschätzung der Befragten weitgehend mit der Einschätzung der möwe. Kinder brauchen in dieser Zeit viel familiären Rückhalt, einen möglichst normalen und strukturierten Tagesablauf sowie Zeit für Gespräche und gemeinsame Aktivitäten mit den Bezugspersonen.
Kinder und ihr Stellenwert in unserer Gesellschaft
Österreich wird als durchaus kinderfreundliches Land wahrgenommen – zwei Drittel attestieren dem Land Kinderfreundlichkeit. Bei den Bestrebungen der Politik, sich um die Anliegen der Kinder zu deren Schutz und Wohl zu kümmern, gibt es nach Ansicht der Befragten Spielraum nach oben. Während 28% mit dem Engagement der Politik zufrieden sind, meinen immerhin 57% der Meinung, dass diese Bemühungen deutlich forciert werden können. 13% sehen diesbezüglich bei der Politik eine Vernachlässigung des Themas.
Expert*innen betonen Notwendigkeit von Interdisziplinarität im Kinderschutz und präventive Schulungen von Eltern und Kindern
Kinderärztin Falger sieht eine konkrete Möglichkeit in Schulungen, um das Bewusstsein bei Erwachsenen, aber bereits auch bei Kindern, zu schärfen. „Schulungen bei Erwachsenen und Kindern sollen über die seit den 90er Jahren bestehenden Rechte von Kindern aufklären, aber auch Grundwerte im Umgang mit Kindern vermitteln“, so Falger. Für die Expertinnen hat die Arbeit von Kinderschutzorganisationen nicht mehr nur intervenierenden Charakter, sondern zunehmend präventive Aufgaben, um Schädigungen zu vermeiden. „Denn es ist längst bewiesen, dass Gewalt in der Kindheit körperliche und/oder psychische Spätfolgen haben kann, die zu einer Einschränkung in der gesamtgesellschaftlichen Produktivität führen!“ weiß Falger.
Für die Kinderärztin und Leiterin der Kinderschutzgruppe im Landesklinikum Mistelbach-Gänserndorf ist die Vernetzung mit extramuralen Organisationen, die das Kindeswohl schützen, selbstverständlich und sehr wichtig. „In Ordinationen oder Krankenanstalten sehen wir oft nur die Spitze des Eisberges: Nicht jede Verletzung, die durch eine Misshandlung hervorgerufen wird, wird auch gleich beim Arzt vorgestellt. Und oft ist es sehr schwierig zu beweisen, dass blaue Flecken, Verbrennungen oder ein Knochenbruch eine Folge von Gewalt sind - denn die körperlichen Male sind oft zu unspezifisch“ sagt Falger. Außerdem beobachtet sie in jüngster Zeit die Zunahme psychosomatischer Krankheitsbilder bei Kindern, was mit der erhöhten Belastung durch die Pandemie in Zusammenhang zu stehen scheint. Die Vizepräsidentin der möwe betont die Wichtigkeit der Interdisziplinarität von Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutzorganisationen oder aufsuchenden Hilfen (zB „frühe Hilfen“), um Kindern im häuslichen Umfeld und nachhaltig für einen längeren Zeitraum Schutz und Unterstützung, aber auch Kontrolle anbieten zu können.
Die Studienergebnisse untermauern daher die wichtigsten Forderungen der möwe:
- Es braucht noch mehr Aufklärung und Bewusstseinsbildung – Kampagnen zu Kinderrechten und Gewaltprävention
- Alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, müssen in der Ausbildung verpflichtend in Bezug auf Kinderrechte und Kinderschutz geschult werden
- Gewaltfreie Erziehung kann erlernt werden – wir fordern eine Thematisierung bereits im Mutter-Kind-Pass, damit Eltern so früh wie möglich alternatives Erziehungsverhalten lernen
- Psychosoziale und kommunikative Bedürfnisse von Kindern dürfen nicht wegen der Covid-Sicherheitsmaßnahmen vernachlässigt werden
- Die Politik muss das Thema Kinderschutz verstärkt in den Fokus nehmen
- Es muss verstärkt darüber informiert werden, dass Kinderschutz nicht nur Aufgabe der Polizei oder der behördlichen Kinder- und Jugendhilfe ist, sondern Zivilcourage braucht und die Verantwortung von Erwachsenen, die hinschauen und Kindern zuhören
- Nachdem ab 1.1.2021 endlich auch Kinder, die Zeugen häuslicher Gewalt wurden, auf Opferrechte wie Prozessbegleitung Anspruch haben, braucht es begleitende Informationsmaßnahmen und eine Aufstockung der Ressourcen für Kinderschutzorganisationen zur Umsetzung dieser Rechte
Die Psychologin und Kinderschutzexpertin Wölfl stellt zusammenfassend fest: „Insgesamt erlauben die Ergebnisse unserer Umfrage einerseits Zuversicht, weil Bewusstsein und Sensibilität für Kinderschutzfragen in der Bevölkerung zunehmen und Gewalt an Kindern eher aus Überforderung als aus Überzeugung ausgeübt wird. Andererseits machen diese Zahlen auch klar, dass noch viel Aufklärungsarbeit notwendig ist, bis kein Kind mehr in Österreich Erziehungsgewalt erleben muss.“
Abschließend appelliert Falger: „Gewaltfreiheit im Umgang mit Kindern sollte also von allgemeinem Interesse sein!“
Veronika Schiller
Fundraising & Öffentlichkeitsarbeit
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