Wien, 18.11. 2025 – Genau fünf Jahre nach der Durchführung der letzten Studie hat die Kinderschutzorganisation die möwe 2025 erneut eine repräsentative Befragung zu Einstellung und Bewusstsein zu Gewalt an Kindern in der österreichischen Bevölkerung durchgeführt. Insgesamt 1.000 Personen wurden zusätzlich zu ihren Gewalterfahrungen in der Kindheit und zur eigenen Einstellung zu Erziehungsmethoden befragt.
Enttäuschende Ergebnisse
Die Studie wurde seit 2009 mit leichten Abwandlungen und Aktualisierungen an aktuelle Fragestellungen bereits fünf Mal durchgeführt – zuletzt 2020. Die Erwartungen waren aufgrund der hohen Medienpräsenz von erschreckenden Gewalt- und Missbrauchsfällen in den letzten Jahren hoch. Doch zeigen die Zahlen, dass es nach wie vor in einigen Bereichen viel zu tun gibt und dass das Wissen, was die verschiedenen Gewaltformen für Kinder und Jugendliche bedeuten, nach wie vor nicht bei allen Menschen angekommen ist:
Noch immer antworten lediglich zwei Drittel der Befragten, dass eine gewaltfreie Erziehung die optimale Erziehungsform sei und immerhin 14 % sind der Meinung, dass man manchmal auch drastische Mittel in der Erziehung einsetzen muss. „Ein wirklich enttäuschendes Ergebnis“, meint Hedwig Wölfl, Geschäftsführerin der möwe, „35 Jahre nach der Einführung eines Verbots von Gewalt in der Erziehung hätten wir gehofft, dass weniger Menschen Gewalt in der Erziehung für notwendig halten. Hier gibt es noch viel zu tun! Es braucht mehr Aufklärung, Bewusstseinsbildung und Kampagnen, die alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten erreichen. Dafür müsste dringend Geld frei gemacht werden. Eine Chance wären auch verpflichtende Beratungen zu psychosozialen Themen während der Schwangerschaft und in der ersten Zeit mit dem Kind. Programme wie die Frühen Hilfen sind hier ein wirksamer Schritt in die richtige Richtung.“
Gewalterleben in der Kindheit
Wie bereits in Vorstudien lässt sich erkennen, dass Gewalterleben ein Generationenthema ist.
Besonders gut zu sehen ist das bei der Frage nach körperlicher Gewalt, bei der 10% der 14 – 29jährigen angeben, solche erlebt zu haben oder zu erleben, während das bei den über 64jährigen 46 % sind. Immerhin 76% der 10 – 29jährigen sagen, keine Form von Gewalt erlebt zu haben oder zu erleben, während das bei den über 64jährigen weniger als die Hälfte der Befragten angeben.
Leider gibt es keine aktuelle Studie zu Gewalterleben in der Bevölkerung, die das differenzierter und mit einer größeren Stichprobe erfasst und die Zahlen aus der Statistik des Innenministeriums bilden nur die Spitze des Eisbergs ab. Dr.in Sabine Völkl-Kernstock, Psychologin und Vorstandsmitglied der möwe meint: „Das Bewusstsein, dass Gewalterleben schädlich ist, steigt zwar in unserer Gesellschaft, jedoch ist auch weiterhin Präventionsarbeit notwendig, auch in Anbetracht kultureller Unterschiede im Verständnis und sich verändernder Formen von Gewalt.“ Rückblickend auf frühere Studien lässt sich feststellen, dass körperliche Gewalt eher rückläufig ist, während psychische Gewaltformen zunehmen und aktuell neue digitale Gewaltformen dazukommen. Zusätzlich wäre es wichtig, die Aufklärungsarbeit bei Buben und Burschen zu verstärken. Dass aktuell deutlich mehr Mädchen als Burschen in Kinderschutzzentren Hilfe suchen, ist nicht auf eine deutliche höhere Evidenz bei Mädchen zurückzuführen, sondern dass Gewalterleben für Buben und Burschen nach wie vor um ein Vielfaches schambehafteter zu sein scheint als für Mädchen.
Unterschiedlicher Wissensstand bei alten und neuen Gewaltformen
Besonders in Hinblick auf die unterschiedlichen Gewaltformen fällt auf, dass es scheinbar nach wie vor sehr unterschiedlichen Wissensstand und sehr differenzierende Meinung dazu gibt.
Bei der Beurteilung verschiedener Szenarien lagen die Werte für körperliche Gewalt bei um die 90 %, aber es ist auch hier – analog zur Frage nach der bevorzugten Erziehungsform – noch so, dass körperliche Gewalt in manchen Situationen als „gerechtfertigt“ angesehen wird.
Die größte Verbesserung im Bewusstsein über Gewalt kann man bei der Beurteilung von psychischer Gewalt sehen, wobei hier nach wie vor Luft nach oben ist: denn noch immer sind es rund ein Drittel der Befragten, die das Anschweigen eines Kindes oder die Drohung von Liebesentzug nicht als gewaltvolle Handlung wahrnehmen.
Erstmals abgefragt wurden Szenarien der Vernachlässigung, wie z.B. die Vorstellung, dass ein Volksschulkind keine regelmäßigen Mahlzeiten bekommt und mehrmals die Woche bis spätabends allein gelassen wird. Auch dass Kinder von Bildung und von Gleichaltrigen ferngehalten werden, erkennen nur etwas mehr als die Hälfte der Befragten als Gewalt. “Dieses Thema ist genauso wenig wie die problematische Nutzung von digitalen Medien in den Köpfen der Menschen angekommen“, meint Johanna Zimmerl, Bereichsleiterin der möwe Kinderschutzzentren „Wenn Kinder mehrere Stunden am Handy oder Tablet beschäftigt werden, oder sich stundenlang niemand um sie kümmert, dann schädigt das die Kinder und Jugendlichen dauerhaft. Hier finden sich Themen von Unwissenheit bis Überforderung auf Elternseite wieder, die nachhaltig und massiv Bindungsentwicklung und Beziehungsfähigkeit der Kinder beeinträchtigen“.
Neue Formen sexualisierter Gewalt in der Studie erstmals abgefragt
Ebenfalls in Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Medien stehen neue Formen von Gewalt, die in der Studie erstmals abgefragt wurden. Immerhin ordneten 88% der Befragten das unerwünschte Versenden oder ins Netz stellen von Nacktfotos durch andere Jugendliche als sexuelle Gewalt ein.
Während eindeutige sexuelle Handlungen mit Kindern oder das Zeigen von pornografischen Materialien klar zugeordnet werden, sind erstaunlicherweise immer mehr Menschen der Meinung, dass die Aufklärung eines 4jährigen Kindes oder das gemeinsame Bad von Eltern und jungen Kindern ebenso als sexuelle Gewalt einzuordnen ist. „Hier bleibt weiterhin viel zu tun an Präventions- und Informationsarbeit, um Kinder auch in ihrer sexuellen Entwicklung altersentsprechend begleiten zu können“ meint Zimmerl „denn es darf nicht nur um ein Aufklärungsgespräch gehen, sondern um die Entwicklung einer gesunden Selbstwahrnehmung und eines Bewusstseins für die eigenen Wünsche und Grenzen auch als wesentlicher Schutzfaktor vor dem Erleben sexueller Übergriffe.“
Kinderschutz braucht Zivilcourage
Auf die Frage, ob sie schon einmal den Verdacht hatten, dass ein Kind durch Gewalt gefährdet ist, antworteten 17 % mit Ja. Dieser Wert ist in den letzten Jahren zwar angestiegen, doch geben 20 % davon an, dass sie trotz eines Verdachts nichts unternommen haben und ihr Wissen für sich behalten haben. Auch Menschen, die noch nie einen Verdacht hatten, geben zu 8 % an, dass sie nichts tun würden, bzw. sich lediglich diskret verhalten würden. „Wir appellieren an alle Menschen und erinnern daran, dass die Erwachsenen für den Schutz von Kindern die Verantwortung übernehmen müssen“ meint Wölfl, „und natürlich möchte niemand jemanden anschwärzen oder unbegründete Verdächtigungen aussprechen. Darum stehen die Kolleg*innen in den Kinderschutzzentren für die Beratung zur Verfügung. Gemeinsam mit einer Kinderschutzexpertin oder einem Kinderschutzexperten kann die Bewertung der Situation erleichtert werden und es werden auch Empfehlungen für nächste Handlungsschritte weitergegeben.“ Dass bei Verdacht Polizei und Kinder- und Jugendhilfe verständigt werden können, ist der Allgemeinheit zwar bekannt, aber wie im Ernstfall gehandelt wird, unterscheidet sich doch wesentlich.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei dem Verdacht einer Vernachlässigung eines Kindes. 17% haben einen solchen bereits gehabt, aber nur die Hälfte von ihnen hat diesen Verdacht auch gemeldet.
Expert*innen plädieren für Prävention statt härteren Strafen
Nach härteren Strafen oder Zwangstherapie von Täter*innen rufen nach wie vor ein Großteil der befragten Menschen, während die von Expert*innen empfohlenen präventiven und aufklärenden Maßnahmen deutlich schlechtere Werte erzielen. Auch hier gilt es weiter zu informieren und auch politisch Einfluss zu nehmen. „Gerade bei medial bekannten Fällen erleben wir eine starke Polarisierung, die weder für die Sache noch für die Betroffenen hilfreich ist“ meint Sabine Völkl-Kernstock „als Expert*innen wissen wir, dass der wirksamste Kinderschutz die Prävention ist, die bereits ab dem Kleinkindalter im pädagogischen Kontext, insbesondere durch die Erziehung der Eltern und deren Vorbildwirkung vermittelt werden soll.“ Dabei ist es wichtig, dass Kinder lernen, gut auf sich zu achten und eigene Grenzen zu erkennen, aber ebenso lernen, sorgfältig und anständig mit anderen Menschen umzugehen und deren Grenzen zu respektieren. „Zu erwähnen ist dabei auch, dass Fehlverhalten passiert und wenn dem so ist, benötigt es eine entsprechende Konsequenz, im Sinne einer Wiedergutmachung,“ meint sie „Also was muss ich tun, damit ich meinen Fehler einsehe und der Person oder der Sache, der ich geschadet habe, eine wieder besser machende Handlung entgegensetze.“
Die Studienergebnisse untermauern daher die wichtigsten Forderungen der möwe:
- Es braucht noch mehr Aufklärung, Bewusstseinsbildung und Kampagnen, die alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten erreichen
- Alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, müssen in der Ausbildung verpflichtend in Bezug auf Kinderrechte und Kinderschutz geschult werden
- Gewaltfreie Erziehung kann erlernt werden – wir fordern verpflichtende Beratungen zu psychosozialen Themen während der Schwangerschaft und in der ersten Zeit mit dem Kind
- Die Politik muss das Thema Kinderschutz verstärkt in den Fokus nehmen
- Kinderschutz ist die Aufgabe einer ganzen Gesellschaft. Es braucht Zivilcourage und Menschen, die hinschauen, Kindern glauben und helfen
- Besonders vulnerable Gruppen, wie Kinder mit Behinderung oder auch Kinder die zB in Wohngemeinschaften untergebracht werden müssen, weil sie kein sicheres Zuhause in der Familie haben, brauchen verstärkt fachgerechte Unterstützung
Die Psychologin und Kinderschutzexpertin Wölfl stellt zusammenfassend fest:
„Insgesamt muss die Versorgung von gewaltbetroffenen Kindern und Jugendlichen auch weiterhin gesichert werden. Die lebenslangen individuellen sowie in der Folge auch volkwirtschaftlichen Folgen von Gewalterfahrungen dürfen nicht unterschätzt werden!”
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