Betrifft: Stellungnahme zu Ministerialentwurf betreffend Bundesgesetz, mit dem das Eltern-Kind-Pass-Gesetz, das Kinderbetreuungsgeldgesetz und das Familienlastenausgleichsgesetz 1967 geändert werden
Die möwe Kinderschutz gemeinnützige GmbH begrüßt als umsetzende Organisation der Frühen Hilfen in Wien und Niederösterreich insbesondere die vorgesehene Schnittstelle zwischen dem elektronischen Eltern-Kind-Pass und den Frühen Hilfen. Als zentrales Vorsorgeinstrument für alle Schwangeren und Familien birgt der Eltern-Kind-Pass damit ein immenses Potential, durch die Weitervermittlung von Familien in belasteten Lebenssituationen an die Frühen Hilfen das gesunde Aufwachsen von Kindern zu unterstützen. Damit der Eltern-Kind-Pass dieses Potential erfüllen kann, müssen jedoch Schwangere und Familien, die z.B. aufgrund psychosozialer Belastungen Unterstützungsbedarf haben, zuverlässig erkannt und durch qualifizierte Fachkräfte zu mehreren Zeitpunkten vor und nach der Geburt des Kindes beraten werden.
Die vorliegende Stellungnahme wurde in Abstimmung mit der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien erstellt.
Identifikation von psychosozialen Risikofaktoren
Basierend auf mehreren Berichten des Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment wurden zwischen 2014 und 2018 zahlreiche Empfehlungen für einen weiterentwickelten Eltern-Kind-Pass in einem standardisierten, transparenten und evidenzinformierten Prozess durch eine multiprofessionelle und interdisziplinäre Facharbeitsgruppe erstellt[1]. Dabei war u.a. das dezidierte Ziel, in dem bisher sehr medizinisch ausgerichteten Vorsorgeinstrument zukünftig auch psychosoziale Risikofaktoren und Belastungen verstärkt zu berücksichtigen. Dadurch sollte auch gewährleistet werden, dass der Eltern-Kind-Pass „auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit am Lebensanfang sowie auch zur Förderung von gesundheitlicher Chancengerechtigkeit leisten kann“[2].
Peripartale psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Gesundheitsproblemen während der Schwangerschaft und im ersten Jahr nach der Geburt: internationale Studien schätzen die Prävalenz auf 20% bei Müttern und 10% bei Vätern. Es gibt zudem eindeutige Evidenz für die potenziell negativen Auswirkungen auf die Gesundheit von Eltern und Kind.[3] Mittels validierter Screening-Fragebögen können erhöhte Risiken für psychische Erkrankungen identifiziert werden. Die Facharbeitsgruppe für die Weiterentwicklung des Eltern-Kind-Passes hat sich – basierend auf internationalen, evidenzbasierten Leitlinien – in ihren Empfehlungen für den Einsatz solcher Screening-Fragebögen (PHQ-4 Fragebogen, Ultrakurzform des Patient Health Questionnaire, umfasst die ersten beiden Fragen des Depressionsmoduls (PHQ-2) und die ersten beiden Fragen zur Erfassung der generalisierten Ängstlichkeit (GAD-2)) ausgesprochen. Weitere von der Facharbeitsgruppe empfohlene Erhebungen umfassen die Leitfragen zur Erfassung von psychosozialen Belastungen (z.B. soziale/familiäre Unterstützung, finanzielle Absicherung, Überforderung, Sorgen/Belastungen, Bewältigungsstrategien) sowie zum Thema häusliche Gewalt und Substanzkonsum.1
Dabei ist es unerlässlich, dass die Screenings und Abfragen von psychosozialen Belastungen nicht nur während der Schwangerschaft durchgeführt werden, sondern auch nach der Geburt des Kindes. Die Facharbeitsgruppe hat sich dafür ausgesprochen, die Screening-Fragebögen zu vier Zeitpunkten einzusetzen: so früh wie möglich in der Schwangerschaft, in Schwangerschaftswoche 24-28 sowie 6-8 Wochen und 3-5 Monate postpartal. Auch die anderen psychosozialen Belastungen und Risikofaktoren sollen jedenfalls zu mehreren Zeitpunkten und auch nach der Geburt abgefragt werden.1
Verpflichtendes Gesundheitsgespräch für gesundheitliche Chancengerechtigkeit
Damit gewährleistet werden kann, dass Schwangere und Familien diese Screenings erhalten und peripartale psychische Erkrankungen sowie psychosozialer Unterstützungsbedarf erkannt werden, ist es notwendig, dass die Abfrage im Rahmen von „verpflichtenden“ Untersuchungen durchgeführt werden, d.h. an die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes gebunden sind.
Wie aus der Evaluation der Hebammenberatung im Rahmen der bisherigen Mutter-Kind-Pass Untersuchung hervorgeht, werden „freiwillige“ Untersuchungen nur von einem geringen Teil der Schwangeren/Familien genutzt: 2022 waren es beispielsweise nur rund 38 % der Schwangeren, die die „freiwillige“ Hebammenberatung zwischen der 18. und 22. Schwangerschaftswoche in Anspruch genommen haben. Zudem wurde das Angebot von Frauen über 30 Jahren sowie mit höherer Bildung überdurchschnittlich häufiger genutzt, während sehr junge Frauen und Frauen mit anderer Staatsbürgerschaft das Angebot deutlich seltener in Anspruch genommen haben.[4] Im Sinne der Förderung gesundheitlicher und sozialer Chancengerechtigkeit sollten daher nicht nur rein medizinische Untersuchungen mit dem Kinderbetreuungsgeld verknüpft werden, sondern auch jene Untersuchungen und Beratungen, die auf das Erkennen von psychosozialen Belastungsfaktoren abzielen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Familien mit Unterstützungsbedarf auch tatsächlich von einem Angebot wie den Frühen Hilfen im Sinne der gesunden Entwicklung von Kindern profitieren können.
Empfehlungen zum aktuellen Ministerialentwurf und zur geplanten Verordnung
Für das überarbeitete Untersuchungsprogramm des elektronischen Eltern-Kind-Pass empfehlen wir daher abschließend, die folgenden Punkte unbedingt zu berücksichtigen:
- Psychosoziale Risikofaktoren müssen im überarbeiteten Untersuchungsprogramm verstärkt berücksichtigt werden, da sie die Gesundheit von Eltern und Kindern massiv beeinflussen. Ein Eltern-Kind-Pass, der weiterhin vorrangig medizinische Untersuchungen umfasst, würde dem dezidierten Ziel des Überarbeitungsprozess nicht entsprechen.
- Die Identifizierung von psychosozialen Risikofaktoren und die Screenings auf psychische Erkrankungen sollten daher unbedingt im Rahmen von verpflichtenden, an den vollen Erhalt des Kinderbetreuungsgeldes gebundenen Untersuchungen und Beratungen erfolgen, damit v.a. auch sozioökonomisch benachteiligte Schwangere und Familien erreicht werden.
- Die Screenings auf psychische Erkrankungen und psychosozialen Unterstützungsbedarf müssen zu mehreren Zeitpunkten während der Schwangerschaft und nach der Geburt erfolgen, um die Wahrscheinlichkeit des Erkennens entsprechender Symptome und Risikofaktoren zu erhöhen.
- Gesundheitsdiensteanbieter:innen (GDA), die Gesundheitsgespräche durchführen und/oder psychosozialen Unterstützungsbedarf erheben, müssen fachliche Kompetenzen und Erfahrungen im Umgang mit Schwangeren und Familien mit psychischen Erkrankungen bzw. psychosozialen Belastungen sowie Kompetenzen in der Gesprächsführung bei sensiblen Themen aufweisen. Darüber hinaus müssen sie (regionale) Angebote wie Frühe Hilfen kennen, um bei Bedarf entsprechend beraten und weitervermitteln zu können.
- Zur Sicherstellung der Qualität der Durchführung der Gesundheitsgespräche und der Erhebung von psychosozialem Unterstützungsbedarf wird dringend empfohlen, dass GDA (z.B. Fachärzt:innen für Allgemeinmedizin und Familienmedizin) themenspezifische Fortbildungen absolvieren oder qualifizierte Fachpersonen mit Schwerpunkt im Bereich peripartale psychische Belastungen die Erhebung psychosozialer Risikofaktoren übernehmen.
- Zusätzlich wird empfohlen, dass die Elternberatung im Rahmen des Eltern-Kind-Passes weiterhin von qualifizierten Fachpersonen der Familienberatungsstellen angeboten wird, um Familien bei sozioökonomischen Belastungen und psychosozialen Risikofaktoren zu beraten und zu Angeboten wie Frühe Hilfen weitervermitteln zu können. Diesbezüglich verweisen wir auf die Stellungnahme der Österreichischen Familienberatungsstellen.
Wir ersuchen um Berücksichtigung der vorliegenden Stellungnahme.
Mit besten Grüßen
Mag.a Hedwig Wölfl
Geschäftsführung und Fachliche Leitung
die möwe Kinderschutz gemeinnützige GmbH
[1] Reinsperger I, Rosian K, Winkler R, Piso B. Eltern-Kind-Vorsorge neu. Teil XI: Mutter-Kind-Pass Weiterentwicklung: Screeningempfehlungen der Facharbeitsgruppe für Schwangerschaft, Wochenbett und Kindheit (0-6 Jahre). HTA Projektbericht Nr. 92; 2018. Wien: Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment. https://eprints.aihta.at/1163/1/HTA-Projektbericht_Nr.92.pdf
[2] https://goeg.at/e_eltern_kind_pass
[3] Zechmeister-Koss, I., Hörtnagl, C., Lampe, A. et al. Perinatal and infant mental health care in Austria. Neuropsychiatr 39, 11–19 (2025). https://doi.org/10.1007/s40211-024-00516-0
[4] Link, Thomas (2024): Hebammenberatung im Rahmen des Mutter-Kind-Passes. Ergebnisbericht für das Jahr 2022. Gesundheit Österreich, Wien. https://jasmin.goeg.at/id/eprint/3896/1/Hebammenberatung%20Berichtsjahr%202022_bf.pdf